Ich ging wie immer auf dem Heimweg die Rübenkampstraße hinunter, als mir das alte Haus zum erstenmal auffiel. Grau verputzt mit schwarzen Fensterhöhlen, die weißen Plastikrahmen schimmerten im Mondlicht. Aus der offenen Haustür fiel warmes Licht auf die Straße, durchmischt vom sanften Bummern eines E-Basses. Hineingezogen stand ich schon in der Tür, hinter der es gleich einige Stufen abwärts in einen niedrigen Raum ging, Vollgestellt mit dunklen Schaumstoffsofas und kleinen Tischen, auf denen Kerzen brannten und Aschenbecher überquollen. Dazu Flaschen und Gläser und Rotweinpfützen. Etwa ein Dutzend Leute in bunter Kleidung saß und lag auf den Polstern und lauschte dem Bassisten. Der stand lang und schlaksig an der Stirnwand, spielte selbstvergessen seinen Blues. Seine strähnigen Haare klebten ihm auf dem Kopf, der im Takt nach vorn und zurück zuckte, wie ein Geier beim Fressen. Seine schwere, dunkle Brille drohte bei jedem Vorwärtszucken von der Nase zu fliegen, wurde aber von einem Band hinter den Ohren festgehalten, so daß sie immer wieder an ihren angestammten Platz zurückgeschleudert wurde.
Bei meinem Eintreten schien sich niemand um mich zu kümmern, doch nun spürte ich, daß ich angeschaut wurde. Dunkle Augen, die mich zu verschlingen schienen, ein hungriger Mund im blassen, ebenmäßigen Gesicht, umrahmt von langen schwarzen Locken, Mein Herz setzte einen ewigen Moment aus, rutschte dann nach unten und flatterte in meinem Bauch. Jetzt lächelte sie. Mein Mund wurde trocken und die Knie weich. Ich schnappte nach Luft und griff nach hinten, um mich am Türpfosten festzuhalten. Gleichzeitig riß sich Blick von ihr los, um ihn wieder dem Geierbassisten zuzuwenden. Der grinste nur spöttisch und wechselte vom Blues in ein Flamencothema. Ich fand mich neben ihr auf einem Sofa sitzend wieder. Sie streichelte mein Haar und schaute mich weiterhin mit ihren dunklen Augen an. Ich fühlte, wie mein Herz noch tiefer rutschte und preßte meine Knie zusammen. Sie nahm nun mein Gesicht in ihre Hände, streichelte dann meinen Hals, sie lächelte immerzu, Nun trat ein merkwürdiges Glitzern in ihre Augen, ihre Lippen öffneten langsam und zeigten zwei Reihen blitzende Zähne. Die obere Reihe geschmückt durch zwei lange, spitze Reißzähne. Mit einem Schrei sprang Ich auf, der Tisch vor uns fiel um, Gläser, Flaschen und Aschenbecher klirrten auf den Fußboden. Ich stolperte noch über das ausgestreckte Bein des Bassisten und raste dann die Treppe rauf.
Raus aus diesem Haus, die Straße hinunter, durch das plötzlich einsetzende Gewitter lief ich, ohne anzuhalten bis zu meinem Haus, stürzte die Treppen hoch in meine Wohnung, verschloß die Tür, legte die Vorhängekette vor, hastete durch alle Räume, nur um die Fenster zu verschließen, und ließ mich schließlich völlig erschöpft auf einen Sessel fallen, um gleich wieder aufzuspringen, in die Küche zu laufen und mit zitternden Händen die Knoblauchknollen aus dem Glas zu fingern. Nun etwas ruhiger geworden, ging ich zurück zu meinem Sessel und versuchte, mich zu beruhigen. Ich bibberte in meinen nassen Klamotten vor Kälte und Angst. Was ich da erlebt hatte, konnte gar nicht sein. Ich mußte verrückt geworden sein. Schließlich gab es in meiner Familie mehrere Fälle von Schizophrenie, Aber ich fühlte mich völlig normal. Nur das, was da geschah, war nicht normal. Draußen tobte das Unwetter weiter. Nach einem grellen Blitz ging das Licht aus, und sofort darauf folgte ein fürchterlicher Donnerschlag, der das Haus erzittern ließ. Irgendwo ging eine Fensterscheibe zu Bruch. Mit klammen Fingern suchte ich Streichhölzer, die irgendwo vor mir auf dem Tisch liegen mußten. Gott sei Dank stand eh noch eine Kerze da, die ich anzünden konnte.
Es war nun völlig still. Ich war weiterhin nicht fähig, mich von einem Platz zu rühren und saß frierend da mit dem Knoblauch in Hand. Nun kam mir wieder ihr Bild, wie sie dort stand an der Tür gelehnt. «Liebster, hauchte sie mir zu, und ich spürte einen kalten Hauch in meinem Nacken. Mir sträubten sich die Haare, und ich umklammerte meine Knoblauchzwiebel fester. Langsam drehte ich meinen Kopf, da stand sie, ihre Zähne glitzerten im Kerzenlicht, gierig beugte sie sich zu mir herunter. Bevor sie zubeißen konnte, stieß ich ihr den Knoblauch in den Mund. Sie biß kräftig zu, im Glauben, meinen Hals erreicht zu haben. Zorn und Ekel traten in ihr Gesicht, Würgend spuckte sie die zerkleinerten Zehen aus. Ich nutzte die Gelegenheit, um aufzuspringen und voller Panik die Wohnung zu verlassen. Im Treppenhaus versuchte der Geier, mir wieder ein Bein zu stellen, aber diesmal hatte ich ihn rechtzeitig gesehen und gab ihm einen kräftigen Stoß, so daß er einige Stufen hinunterstürzte. Ich sprang über ihn hinweg und hinaus, wo ich mich auf mein Fahrrad schwang und wie wildlosstrampelte.
Die Luft war wieder lau, Straßen und Gehweg trocken, als ob es nie ein Unwetter gegeben hätte. Ich kam bald an den Marktplatz. Am großen Zierbrunnen standen Tische und Stühle, die zu einem italienischen Eiscafe gehörten. Ich setzte mich und bestellte mir einen Cappuccino. An den Nachbartischen saßen ganz normale Leute, die seelenruhig ihr Eis löffelten. Ich hatte das Gefühl, hier sicher zu sein. Aber ich hatte kaum angefangen, mir eine Zigarette zu drehen, als zwei Radfahrer auf den Brunnen zufuhren und abstiegen. Es waren das Vampirmädchen und ihr grinsender Geierbassist. Sie stellten ihr Rad ab und kamen auf mich zu. Verzweifelt nahm ich den Kaffeelöffel und meinen Kugelschreiber und hielt sie wie ein Kreuz geformt ihr entgegen. Sie blieb stehen und schaute mich vorwurfsvoll an, während der Geier hinter ihr weiterhin grinste. Ich stand auf und ging rückwärts, das Kreuz in ihre Richtung haltend, zu meinem Fahrrad. Sie folgte mir in gebührendem Abstand, mich weiter mit ihren Augen fixierend. Plötzlich stolperte ich über die Brunnenumrandung und fiel rücklings ins Wasser. Nun kannte sie kein Halten mehr. Mit einem wilden Schrei stürzte sie hinterher ins Wasser, und im Nu war ich in einen wilden Kampf verwickelt, in dem ich alle Kräfte aufbieten mußte, um ihre Zähne von mir fernzuhalten. Sie hatte es nun nicht nur auf meinen Hals abgesehen, sondern versuchte, mich zu beißen, wo sie mich nur erreichen konnte. Schauer von Angst und Lust überliefen mich beim Wälzen im Wasser; das hoch aufspritzte. Voller Befremden mußte ich dabei feststellen, daß mir von diesen ganz normalen Leuten keiner zu Hilfe kam, sondern sie alle ihr Eis weiterlöffelten und so taten, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen würde. Irgendwie gelang es mir, wieder auf die Beine zu kommen und aus dem Brunnen raus. «Pirello hilf», rief sie hinter mir, und ich sah den Baßgeier auf mich zukommen. Ich sprang ihn an, riß ihm die Brille von den Ohren und ließ sie unter meinen Füßen zerknirschen. Der Geier tapperte nun um den Brunnen herum, während Vampirella mit triefenden Kleidern und hängenden Schultern im Brunnen stand. Ein entsetzlich trauriger und verlangender Blick traf mich noch einmal. Ich warf mich wieder auf mein Rad und fuhr los. Nur weg von hier.
Die ganze Nacht irrte ich in der Stadt umher, voller Angst, ihr wieder zu begegnen. Irgendwo auf einer Wiese schlief ich unruhig ein. Immer wieder tauchte Vampirella in meinem Traum auf. Ich wälzt mich und spürte meine Begierde nach diesem Körper, der weißen Haut und die Sehnsucht nach diesen Zähnen, die in mein Fleisch schlagen sollten. Am nächsten Tag fuhr ich zu dem alten Haus. Aber die Tür war mit Brettern vernagelt, ebenso die Fenster. Ich fuhr zum alten Brunnen, auch dort war nichts von Vampirella und Pirello zu sehen. Dann sah ich sie. Sie leckte an einer riesigen Portion Himbeereis. Ich ging zu ihr hin und sagte: «Wie schmeckt das Eis?» Sie sah mich abweisend an, zögerte, dann hielt sie mir ihr Eis hin, und ich durfte probieren. Lange sahen wir uns dabei an und mußten lachen. Ich nahm ihre Hand, und wir gingen zum See hinunter.
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