In diesem Moment fuhr ein heftiger Windstoß durch das Zimmer, die Zimmertüre knallte zu und gleichzeitig das Fenster, so dass Eulalia einen Stoß bekam und mit einem Schrei nach draußen katapultiert wurde. Theo sah, wie Eulalia vom aufkommenden Gewittersturm herumgewirbelt wurde, wie sie versuchte sich, in den Zweigen der Eiche festzuhalten. Die Zweige und Blätter bewegten sich heftig, es wurde sehr dunkel und gleichzeitig rauschte ein heftiger Regen los. Eulalia klammerte sich irgendwo fest und war in kurzer Zeit völlig durchnässt. Ihre langen roten Haare, die vorher lockig ihr feines Gesicht umrahmten, hingen nun in nassen Strähnen, sie war noch blasser geworden und ihre dunklen Augen schauten ängstlich zu Theo hinüber.

„Was guckst du? Genau! Ich hänge hier fest und komme nicht los, genau. Ich werde nie mehr nach Hause kommen, genau.“ Eulalia redete und jammerte in einem fort. Theo wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Mitleid mit der kleinen Elfe. Wie konnte er ihr helfen. Die Eiche war viel zu weit weg vom Fenster. Kurz dachte er daran, ihr ein Bettlaken oder ein Seil hinüber zu werfen, an dem sie sich festhalten könnte und mit dem er sie hätte herüberziehen können. Aber ein Bettlaken war nicht lang genug und woher sollte er jetzt ein Seil herbekommen? Kurz entschlossen rannte er hinaus. „Theo, du willst doch nicht etwa raus? Es gibt ein Gewitter!“, hörte er noch seine Mutter aus der Küche rufen, hüpfte in großen Schritten die Treppe hinunter in den Hof. Unter dem Baum stehend, war er etwas geschützt vor dem Regen, der schon etwas nachgelassen hatte. Der Stamm der Eiche war breit und hoch, die ersten Äste, an denen er sich hätte hochziehen können, unerreichbar für ihn. Ihm fiel ein, dass an der Baustelle nebenan eine Leiter lag, rannte los um sie zu holen, während Eulalia von oben verzweifelt hinter ihm herrief: „wo rennst du hin? Genau! Ich komme nie mehr nach Hause, wenn du mir nicht hilfst, genau!“

Theo kam schon zurück mit der Leiter, legte sie an, konnte jetzt hoch genug steigen, um die ersten Äste zu erreichen und sich zu Eulalia weiter hochzuziehen. Während er kletterte, hörte er sie weiter jammern. Was tat er da eigentlich? Er musste vollkommen verrückt sein. Es gab ein Gewitter und er kletterte in einen Baum hinein. Weil sich dort eine Elfe verfangen hatte, die er jetzt retten musste. Er würde gleich richtig Ärger kriegen von seiner Mutter, denn er war selber mittlerweile auch völlig nass.

Der erste Blitz erhellte schlagartig die Umgebung und kurz darauf folgte ein heftiger Donnerschlag.

„Oh was habe ich getan? Genau! Ich komme nicht mehr zurück. Tara, du hättest selber gehen sollen. Niemand hat mir gesagt, wie gefährlich und schrecklich es in dieser Welt ist. Genau!“, hörte Theo von oben. Es war also wirklich. Diese Elfe hing in der Eiche fest und er konnte sie dort nicht allein lassen. Er konnte sie sehen. Sie klammerte sich an einen Zweig fest, der in Dachhöhe war, also höher noch als sein.
Fenster im 2. Stock, aus dem sie herausgeschleudert worden war.

Theo hatte auch Angst, beim Gewitter im Baum zu sein. Alles war nass und rutschig und er musste noch einige Meter höher klettern, um Eulalia zu erreichen.
Die Äste wurden dünner, der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Er war nun auf Eulalias Höhe, aber die Zweige wurden zu dünn für ihn, würden sein Gewicht nicht halten.

„Komm ein Stück näher, dann kann ich dich halten“, rief Theo hinüber zu ihr. Sie schüttelte nur den Kopf: „Niemals. Ich kann nicht loslassen, ich falle dann runter, genau! Du musst näher kommen!“
„Aber du kannst doch fliegen, du wirst nicht fallen! Wieso fliegst du nicht?“
„Fliegen? Bist du verrückt? Ich bin noch nie bei Gewitter geflogen. Das ist streng verboten. Keine Elfe würde bei Gewitter fliegen. Das ist viel zu gefährlich, genau!“

Theo war völlig durcheinander. Er hatte gedacht, Eulalia hätte sich verletzt oder irgendwo eingeklemmt. Nun stellte sich heraus, dass sie einfach nur Angst hatte, den Zweig, an den sie sich klammerte, loszulassen. Dabei hatte er auch Angst, war im Gewitter in den Baum geklettert, würde gleich zu Hause Ärger kriegen. Und hing jetzt hier oben in der Eiche, während die Windböen an ihm zerrten und der Regen ihm ins Gesicht peitschte. Es würde ihn nicht wundern, wenn der nächste Blitz in seine Eiche einschlagen würde, und dann wäre sowieso alles vorbei. Man würde von ihm nur noch eine schwarz verkohlte, zusammengeschrumpfte Leiche finden und sich fragen, was ihn wohl zu dieser selbstmörderischen Aktion getrieben hätte.

Seine Mutter würde unendlich traurig sein, na ja und er hätte es selber verbockt. Was hätte er alles noch erleben können! Abenteuer, Familie gründen, Kinder, Enkelkinder, denen er von seinen Abenteuern hätte erzählen können. Tragisch gestorben mit 12 Jahren als er eine Elfe beim Gewitter aus einem Baum retten wollte. Er konnte die Schlagzeilen der Zeitungen schon sehen.
Unerklärlicher Unfall. Junge klettert bei Gewitter in den Baum, wird vom Blitz getroffen.

Niemand würde über die Elfe schreiben oder so:

Tragisch: Elfe gerettet, Retter vom Blitz getroffen!

Es war alles nur Einbildung, nur Fantasie so wie in den Büchern, die er so liebte.
„Komm schon, komm schon! Ich kann mich nicht mehr lange halten und dann stürze ich ab, genau! Und du bist schuld!“ riss ihn Eulalia aus seinen Gedanken.

Theo streckte die Hand aus. „Nimm meine Hand, ich halte dich fest, ziehe dich zu mir herüber!“
„Das kann ich nicht. Ich brauche doch beide Hände zum Festhalten, genau! Du musst näher kommen.“

Theo rutschte noch ein Stück näher, der Ast bog sich schon bedenklich, der nächste Blitz blendete ihn und fast hätte er daneben gegriffen. Er konnte sich gerade noch halten, weiter ging es nicht.
„Eulalia, vertraue mir.“ Zum ersten Mal sprach er ihren Namen aus. Egal ob Fantasie oder echt. Er wollte, er musste dieses Wesen retten.

„Eulalia, du wirst nicht fallen. Eine Hand loslassen und zu mir reichen. Nur ganz kurz. Ich halte dich. Es wird nichts passieren! Gib mir deine Hand, bitte!“

Eulalia zögerte, kniff ihre Lippen zusammen sagte nichts mehr und dann löste sie eine Hand vom Zweig, streckte sie kurz in Richtung von Theo aus. Bevor dieser sie erreichen konnte, hatte sie sie wieder zurückgezogen und hielt sich wieder mit beiden Händen fest.

„Siehst du, es geht doch. Mach es noch mal Eulalia, Du kannst es. Ein wenig länger loslassen, streck dich in meine Richtung.“

„Nein niemals, genau! Was für ein Elend, ich werde abstürzen, nie und nimmer wirst du mich halten können.“
„Ok, ich rutsche noch ein Stück zu dir rüber. Und dann zählen wir bis drei und du gibst mir deine Hand!“

Er konnte ihre Angst und Verzweiflung sehen, aber ein wenig schienen seine beruhigenden Worte zu wirken. Theo rutschte weiter, es musste ja weitergehen.

Es gab ein fieses knackendes Geräusch, der Ast konnte Theo nicht länger halten, brach durch. Für Theo verlief nun alles wie in Zeitlupe. Er hörte den Ast brechen, spürte, wie die Schwerkraft ihn nach unten zog, riss die Arme hoch, um sich irgendwo fest zu halten, erwischte ein Bein von Eulalia, die vor Schreck beide Hände von ihrem Zweig löste, sich einen kurzen Moment im freien Fall befand, dann ohne Nachzudenken ihre Flügel bewegte und dann gemeinsam mit Theo, der sich weiterhin an ihrem Bein festhielt, nach unten bewegte, um dann etwas unsanft auf Theo, der als erster den Boden erreichte, zu landen.

Theo lag auf dem Rücken, es war noch alles heil an ihm. Auf seiner Brust lag, leichter als erwartet, Eulalia. Er lebte noch, war pitschnass und es schien so, als ob er sich nichts gebrochen hätte.
Eulalia, nass wie sie war, flog hoch, drehte Pirouetten, machte Loopings, jubelte. „Ich kann bei Gewitter fliegen, ich kann mit nassen Flügeln fliegen. Genau! Ich kann wieder zurück, Juhu, genau!“

Theo schaute ihr hinterher. Der Traum war wohl noch nicht zu Ende. Oder es war doch kein Traum. Er musste wieder rein gehen, sich trockene Sachen anziehen, ohne dass seine Mutter etwas merkte.
Schon hörte er von oben seine Mutter rufen: „Theo, wo bist du? Du sollst doch nicht bei Gewitter raus! – Theo, komm rein, sofort!“

Währenddessen flog und jubilierte Eulalia weiter um die Eiche herum. Es regnete weiterhin. Theo lag auf dem Boden, völlig durchnässt und überlegte wie er es schaffen könnte in sein Zimmer zu kommen und sich umzuziehen. Konnte seine Mutter Eulalia womöglich sehen oder hören? Wenn ja, dann bildete er sich das doch nicht ein und er war nicht verrückt geworden. Seine Mutter hatte aus dem Küchenfenster gerufen. Sie konnte ihn nicht sehen, weil er verdeckt unter der Eiche lag, aber Eulalia flog hin und her, um die Eiche herum darüber und wieder zurück zu ihm, außerdem war sie ziemlich laut dabei. Jedenfalls reagierte sie nicht darauf, sie hatte wohl nichts gesehen und wenn sie etwas gehört hatte, so wird sie glauben, es wäre irgendein Kind, das leichtsinnigerweise auch im Hof spielte.

Theo stand auf, er hatte Glück gehabt, es tat ihm nichts weh, also war alles heil geblieben. Eulalia flog herunter zu ihm und schwebte nun in Augenhöhe vor ihm.
„Das war doch toll, genau. Ich bin geflogen während des Gewitters. Es geht ja doch, genau! Und du bist tatsächlich ein Held, Theo, wenn auch ganz schön schwer. Wer hätte das gedacht? Genau! Also jetzt muss ich dir doch endlich die Botschaft überbringen, wegen der ich doch gekommen bin, genau!“

Währenddessen nestelte sie an der Umhängetasche, die sie trug und versuchte den Verschluss zu öffnen.

„Theo, du kommst jetzt sofort rein, das Essen ist fertig und es regnet immer noch. Wenn du nicht sofort kommst, kannst du kein Eis zum Nachtisch bekommen!“ hörte er seine Mutter rufen, während Eulalia sich davon überhaupt nicht beeindrucken ließ und einfach weiter redete.

„Also es ist nämlich so, wie soll ich anfangen? Genau. Tara hat mich geschickt, und ich soll dich rufen, genau. jedenfalls ist das alles sehr sehr wichtig und Tara hat mir eingeschärft, dass ich nichts vergessen darf und dir alles genau erklären, wie du den Weg findest, wo der Übergang ist, genau, und was du beachten musst. und da ist noch was, das ich dir geben soll, oh oh, ich bekomme diesen blöden Verschluss nicht auf. Es ist ein Umschlag, ein verschlossener Umschlag, keine Ahnung was drin ist, genau! ein Brief, genau, von deinem Vater!“

Ein Brief von seinem Vater? Theo fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sein Vater war tot, schon lange. So hatte es seine Mutter erzählt. Sein Vater wäre kurz nach seiner Geburt gestorben. Er hatte ihn nie gesehen. Er wusste nichts über ihn, seine Mutter wurde immer sehr schweigsam, wenn er sie darauf ansprach. Was sie ihm erzählte war, dass sie ihn irgendwann kennenlernte, sich in ihn verliebte, eine Zeit mit ihm zusammen war und dann wäre er plötzlich verschwunden gewesen und sie hätte nicht mehr von ihm gehört.

Nach der Geburt von Theo hätte sie die Nachricht bekommen, dass sein Vater tot wäre. Sie musste das glauben und fand sich damit ab. Was hätte sie sonst tun können? Jetzt erschien hier so eine komische Elfe und erzählte etwas von seinem Vater, der doch leben sollte, irgendwo in einer anderen Welt. Aber das war doch alles Unsinn, Spinnkram, das konnte doch nur seine Fantasie sein, die ihm hier einen üblen Streich spielte. Er hatte sich immer so sehr einen Vater gewünscht. Immer wenn in der Schule oder sonst wo die Frage kam: „Und was macht dein Vater?“ dann konnte er nichts sagen. Manchmal dachte er sich irgendwas aus, dann erzählte er, sein Vater wäre Ingenieur und würde Flugzeuge bauen, und er wäre viel unterwegs und deshalb würde er ihn nur selten besuchen. Dass er nicht mit ihnen zusammen wohnte, war nichts Ungewöhnliches und so nahm man ihm das in der Regel ab. Allerdings musste er dann manchmal erklären, wieso er noch nicht einmal Geschenke zum Geburtstag oder Weihnachten von ihm bekam und er noch nicht einmal an diesen Tagen auftauchte. Er musste sich dann immer mehr in Lügen verstricken und es kam vor, dass man ihm nicht mehr glaubte und ihn auslachte, wenn er anfing, Geschichten von seinem Vater zu erzählen. Seine Schulfreunde und die Kinder aus der Nachbarschaft wussten alle, dass er mit seiner Mutter alleine lebte. In seinen Tagträumen und Fantasien war sein Vater immer wieder da. Manchmal tauchte er dort als Flugzeugingenieur auf, manchmal als berühmter Schauspieler oder als Clown. Theo dachte sich dann Geschichten aus, was er zusammen mit seinem Vater machen würde, wie er ihn auf Reisen mitnehmen würde, auf das Filmset oder in den Zirkus wo er auftrat. Das waren schöne Geschichten und er erzählte sie sich am liebsten abends vor dem Einschlafen. Er hatte es schon vor einiger Zeit aufgegeben, diese Geschichten irgendjemand anderes zu erzählen, auch seiner Mutter nicht.

Nun kam hier so eine Elfe aus Irgendwo und erzählte was von seinem Vater, den es doch nicht gab, der nur in seiner Fantasie existierte. Eulalia plapperte derweilen weiter, Theo hatte schon gar nicht mehr zugehört, weil er so mit seinen Gedanken beschäftigt war. Er zwang sich, wieder klare Gedanken zu fassen. Er musste jetzt reingehen, er würde sonst richtig Ärger mit seiner Mutter bekommen. Diese Elfe musste jetzt aufhören zu plappern. Er musste zurück in die Realität und das hieß reingehen, sich unbemerkt umziehen, mit seiner Mutter gemeinsam Mittag essen. Und dann würde sich das alles schon erledigen. Er wollte jetzt nichts mehr hören und sehen von Elfen und irgendeiner Tara und schon gar nicht von seinem Vater.
„Schluss jetzt, sei still du dumme Elfe. Dich gibt es gar nicht und ich muss jetzt gehen. Sei still und verschwinde! Ich will nichts mehr sehen von dir und nichts mehr hören!“

„Mich gibt es nicht? Genau! Aber ich bin doch hier und du siehst mich und du hörst mich. Genau! Tara hat mich davor gewarnt, dass du mich möglicherweise für eine Fantasiegestalt halten würdest. Oh, sie ist so klug, sie hat alles voraus gesehen. Genau! Dass du versuchen würdest, mich zu leugnen, so zu tun als ob ich gar nicht da wäre, genau!“ Eulalia drehte sich ein paar Mal um sich selber und sagte dann in einem ruhigen und gefassten Ton:

„Ich bin total nass, und muss meine Flügel trocknen, nun beruhige dich mal, Theo, genau. Ich fliege jetzt hoch in dein Zimmer und da kann ich mich ausruhen, trocken werden und vom Schreck erholen.“
Und schon sirrte sie nach oben und verschwand in Theos Zimmer. Alles war still, der Regen hatte aufgehört und auch der Wind. Theo stand im Hof unter der Eiche, schüttelte den Kopf. Es war so als ob er sich alles nur eingebildet hatte. Eulalia war verschwunden, und er stand hier, völlig durchnässt, seine Hände schmutzig mit Resten der Eichenrinde. Auch an seiner Hose und Hemd gab es Flecken.


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