Lotta genoss den Fahrtwind, der ihre Haut kühlte. Das Gewitter hatte sich verzogen und sie hatte ihr Skateboard geschnappt und war raus in den Park. Hier gab es eine Skaterbahn und man konnte immer jemand treffen. Was nicht immer gut war, vor allem wenn die Gang um Fettie da war. Er hieß so, weil er so war, nämlich unglaublich fett. Dabei war er aber sehr schnell und kräftig, konnte heftig zuschlagen. Wenn Fettie da war, wurde es schnell unangenehm für Lotta. „Bimbo, Niggertussy, Affenmädchen“, waren die harmloseren Bezeichnungen, die er für sie hatte. Meist liefen diese Begegnungen nach einem bestimmten Muster ab:

„Hau ab, Bimbo“, hieß es dann und seine Kumpels lachten laut.

„Hau doch selber ab, du Fettarsch!“ gab sie wütend zurück.

Und dann war es gut, dass sie auf ihrem Skateboard unglaublich schnell sein konnte, und Fettie und seine Kumpels auch gar nicht erst versuchten, sie einzuholen.

Heute war die Luft rein, kein Fettie in Sicht und sie konnte ihre Sprünge und Wenden auf der Bahn üben.

Der Park mit Spielplatz, Skaterbahn und einem kleinen Teich lag am Rand der Hochhaussiedlung, in der Lotta wohnte. Normalerweise war es hier immer ziemlich voll. Viele Kinder aller Altersstufen, mehr oder weniger beaufsichtigt von den Eltern, meistens den Müttern, die sich auf den Bänken in kleinen Gruppen versammelten.
Türkische oder arabische Frauen mit oder ohne Kopftücher, Russen, Rumänen, Bulgaren, Afghanen, Pakistani, Iraner, Afrikaner, Menschen in allen Schattierungen der Hautfarbe von dunkler, fast schwarzer Haut über kakaofarbig, gelblich bis blassweiß.
Alte Frauen und Männer saßen zusammen und unterhielten sich in einer Sprache die Lotta nicht verstand, aber für türkisch hielt. Kleine Gruppen von jüngeren Männern standen meist etwas abseits, rauchten Zigaretten und sprachen leise miteinander. Meist schien es in diesem Menschen- und Sprachen-Wirrwarr auf kleinem Raum sehr friedlich zuzugehen.

Lotta fiel hier nicht auf mit ihren langen schwarzen Locken, die ihr wild vom Kopf abstanden und einer Haut wie Milchschokolade. Sie trug ein weißes T-Shirt, an den Knien aufgerissene Jeans, wodurch man ihre verkrusteten Wunden von ihrem letzten Sturz sehen konnte sowie halbhohe Sneakers ohne Socken.

Jetzt, kurz nach dem Gewitter waren die Bänke noch nass und leer. Ein paar Kinder spielten in der riesigen Sandkiste und einige wenige Mütter standen am Rand, beobachteten ihre Kinder oder waren in ihre Smartphones vertieft.

Lotta übte weiter ihre Sprünge. Sie hatte die Bahn für sich allein. Die Kunst war, von einer der Seitenwände so viel Anlauf zu nehmen, dass man über eine Pfütze, die sich auf dem flachen Boden in der Mitte der beiden Wände gebildet hatte, rüber springen konnte, ohne nass zu werden.

Das klappte auch ganz gut, bis sie abgelenkt wurde. Auf dem Weg tauchte plötzlich ein Junge auf, den sie hier noch nie gesehen hatte. Rote Haare, die ihm nach allen Seiten vom Kopf abstanden, eine runde Brille mit dunklem Rand. Er trug eine Tasche über der rechten Schulter, in einer Hand hielt er ein Stück Papier, auf das er immer wieder schaute und sich dann wieder etwas ratlos umschaute, als ob er etwas suchen würde. Lotta fand ihn irgendwie süß mit seinem verwirrten Blick, dem schlaksigen Körper und den dünnen Beinen die aus seinen Shorts herauswuchsen.

Sie war gerade vom oberen Rand der Wand gestartet, Tempo aufnehmend als sie den Jungen entdeckte. Sie verlor die Konzentration sprang mit ihrem Skateboard wie so oft über die Pfütze. Aber diesmal zu kurz. Sie landete im Wasser, wodurch sie aus dem Gleichgewicht kam, nach hinten kippte und mit dem Hintern im Wasser landete.

Einen Moment war sie geschockt, rührte sich gar nicht, saß da in der Wasserpfütze und konnte es nicht glauben, was ihr da passiert war. Sie spürte das Wasser durch die Hose auf ihrer Haut, es tat ihr nichts weh, also war alles gut gegangen. So was passiert eben, wenn man nicht Acht gibt, dachte sie. Aber total peinlich, wo dieser Typ wahrscheinlich alles gesehen hatte.

Und jetzt stand der auch noch vor ihr, streckte ihr eine Hand entgegen und sagte dazu:

„Alles gut? Hast du dir wehgetan?“

„Hau ab, was geht dich das an?“ kam es aus ihr heraus, während sie gleichzeitig dachte, dass er wirklich ganz süß war und es schön wäre, seine Hand zu nehmen.

Sie stützte sich mit ihren Händen ab und stand ohne seine Hilfe auf. Der Typ war etwa so groß wie sie, hatte sehr weiße Haut mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht. Irritierend waren seine blauen Augen, die sie besorgt durch die Brille anblickten.

Eigentlich wollte sie ihn schroff antworten und ihn dann stehenlassen. Aber zu ihrer eigenen Verwunderung sagte sie:

„Ist schon ok, nur ein bisschen nass geworden, das trocknet schnell wieder.“

„Gut, ich hab mich schon sehr erschrocken, als ich dich stürzen gesehen habe.“

Er zögerte einen Moment, dann sprach er weiter:

„Ich wollte dich eigentlich etwas fragen. Ich suche das Panmysterion, das soll hier irgendwo sein. Weißt du, wo das ist?“

Lotta überlegte, „Panmysterion, was soll das sein? Habe ich noch nie gehört.“

Dabei fiel ihr ein, dass auf der großen Wiese hinter dem Spielplatz, wo normalerweise Kirmes oder Schützenfest stattfand, ein merkwürdiger Bau aufgestellt worden war. So groß wie ein Zirkuszelt, aber ganz aus Glas oder durchsichtigem Plastik. Sie hatte es mal im Vorbeigehen gesehen und auch gesehen, dass es dort irgendeine Ausstellung geben sollte. Aber das hatte sie nicht interessiert. Ein Zirkus wäre spannend gewesen. Lotta liebte Zirkus und dort vor allem die Clowns. Aber auch dafür hätte sie kein Geld gehabt. Also hatte sie diesen Bau nicht weiter beachtet.

„Vielleicht weiß ich was, vielleicht auch nicht. Wieso willst du das denn wissen? Du bist doch nicht von hier, oder bist du neu hergezogen?“

Theo, um den handelt es sich hier natürlich, war etwas hin und her gerissen. Was sollte er diesem Mädchen erzählen? Sie war ihm aufgefallen, als sie mit ihrem Skateboard die Wand herunterglitt, sicher und elegant. Sie war unglaublich hübsch und es machte ihn unsicher, dass sie so nahe vor ihm stand und ihn mit ihren dunkelbraunen Augen erwartungsvoll ansah. Sie war so nah, dass er ihren herben Schweiß roch. In seinem Bauch kribbelte es.

Er fühlte sich in dieser Siedlung nie wohl. Sie erschien ihm gefährlich. Dort wo er wohnte, gab es nicht so große Häuser, es war übersichtlich, er wusste in etwa, wer dort wohnte, vor wem man sich in Acht nehmen musste und vor wem nicht.
Hier war fremdes und gefährliches Gebiet. Es gab Gangs, über die die wildesten Geschichten kursierten. Es wurde mit Drogen gedealt, angeblich kamen auch die Autoknacker und Einbrecher, die nachts sein Viertel besuchten, von hier.

Man konnte auf der Straße angehalten und verprügelt werden, einfach so, ohne Grund. Wenn man hierher in das Hochhausviertel wollte, benutzte man die gleiche S-Bahn-Linie wie Theo zu seiner Wohnung. Hin und wieder waren dort kleine Gruppen Jugendlicher, die laut und aggressiv auftraten. Theo war verhielt sich dann immer möglichst unauffällig, damit sie nicht auf ihn aufmerksam würden. Bisher war ihm auch nichts passiert.

Nachdem er die Eintrittskarten von Eulalia bekommen hatte, brauchte er eine Weile, um zu verstehen, was auf den Karten stand: Eintritt zum Panmysterion, gültig nur Heute. Panmysterion, was sollte das denn sein? Und wieso nur Heute? Wieso kein Datum? Und wann war heute? Auf der Rückseite stand noch der Ort: Auf dem Festplatz im Kristallpalast.

Auch so unklar. Welcher Festplatz, hier in dieser Stadt? Er wusste, dass es hier bei der Hochhaussiedlung irgendwo einen Platz gab, wo auch manchmal ein Zirkus stattfand. Aber er war noch nie hier gewesen. Seine Mutter wollte nicht in den Zirkus gehen und schon gar nicht in diesem Viertel. Freunde von ihm waren früher schon mal mit ihren Eltern in einen Zirkus gegangen, und er durfte dann manchmal mit. Aber auch sie wären niemals in dieses Viertel zum Zirkus gegangen.

Alle fanden die Clowns am besten. Spannend waren auch die Löwen-und Tigernummern. Aber seit einiger Zeit war für sie der Zirkus etwas für kleine Kinder, und das wollten sie alle nicht mehr sein. Und Clowns waren neuerdings auch nicht mehr lustig, sondern gefährliche Gruselclowns.

Nachdem Eulalia verschwunden war, hatte Theo eine ganze Weile auf seinem Bett gesessen, zum offenen Fenster gestarrt und versucht zu verstehen, was da eben passiert war. Hätte er nicht diesen Brief in der Hand gehabt, wäre alles leicht als Hirngespinst, als Traum zu erklären gewesen, überdreht durch sein maßloses Lesen von Fantasygeschichten und dann wurde durch das Gewitter in seinem Gehirn ein Kurzschluss ausgelöst. Aber dieser Umschlag, dieser Brief von seinem Vater und die Eintrittskarten waren real, er spürte sie in seinen Händen.

Dann war alles andere vielleicht auch real, die Elfe Eulalia, die Anderswelt und dass dort sein Vater leben würde, ein Gaukler, ein Clown? Wenn all das stimmte, dann würde er seinen Vater treffen können.

Wieso hatte der sich dann die ganzen Jahre nicht gemeldet? Wieso jetzt, wo er Hilfe brauchte? Und wenn das so war, was könnte er, der kleine Theo denn schon ausrichten?

Wenn es hieß, Eintritt nur heute, dann konnte er nicht lange überlegen, mit irgendjemand darüber sprechen ging auch nicht, schon gar nicht mit seiner Mutter. Die Chance seinem Vater zu begegnen, ihn kennen zu lernen, gab es nur heute und dann nie wieder.

„Was soll´s, “ dachte er, „ ich schaue mir diesen Kristallpalast mal an. Ich schaue mal, ob es ihn tatsächlich gibt und dann sehe ich weiter.“

So war er jetzt hier im Park gelandet und diesem Mädchen begegnet. Niemals hätte er sich getraut, sie anzusprechen, wenn es nicht zu diesem Unfall gekommen wäre.

„Also, … ich weiß nicht, … ich suche nur dieses Pa-pa-panmysterion.“ kam es stotternd aus ihm heraus. Wieso konnte er nicht einfach ganz normal reden?

Lotta schaute ihn ungeduldig an,
„Was ist mit dir los? Kannst du nicht richtig sprechen? Ich muss jetzt nach Hause, mich umziehen.“

Theo zog den Umschlag mit den Eintrittskarten aus seinem Rucksack heraus.

„Hier, lies! Das muss doch irgendwo hier sein, oder?“

Lotta nahm ihm den Umschlag mit den Tickets aus der Hand.

„Ist das so eine Art Zirkus oder sowas?“ fragte sie. Theo zuckte mit den Schultern, er hatte keine Ahnung um was es sich da handelte.

„Und du hast Eintrittskarten dafür? Vielleicht könnte ich dir zeigen, wo das ist. Vielleicht gehe ich aber auch allein dort rein.“

In dem Moment sprang sie auf ihr Skateboard und sauste los. Theo war völlig verdattert, rannte hinter ihr her.

„Heh bleib stehen, gib mir die Tickets zurück, die gehören mir!“

„Hol sie dir doch! Wenn du mich einholst, bekommst du sie wieder!“ rief Lotta über die Schulter, während sie sich schnell entfernte.

Theo wusste, dass er keine Chance hatte das Mädchen einzuholen. Aber er wollte die Karten zurückbekommen. Er wollte die Chance, zu seinem Vater zu kommen, auf keinen Fall verpassen und er wusste, dass dies hier und heute seine einzige Chance war.

So lief er so schnell er konnte, wobei er bemerkte, dass er es immerhin schaffte, dass sich der Abstand nicht vergrößerte. Dann war diese blöde Tussi, die ihn so hereingelegt hatte hinter einer Kurve verschwunden. Als er endlich selber um die Kurve kam, war nichts mehr von ihr zu sehen.

Verdammt, was sollte er jetzt machen? Ohne die Karten kam er nicht herein in dieses Panmysterion, auch wenn er es finden würde. Und gültig waren sie eben nur heute. Schnaufend ging er langsam weiter. Laufen war nie seine Stärke gewesen und auch im Sportunterricht war er immer einer der Letzten beim 400m-Lauf gewesen.

Plötzlich sprang sie hinter einem Busch hervor, das Skateboard unter dem Arm und den Umschlag mit den Tickets in der Hand.

„Mann, was bist du lahm! Komm wir sind gleich da. Da vorne ist der Festplatz und dort ist auch dieser komische Kristallpalast mit diesem Pan-Dingsbums.“

Theo war fassungslos, erleichtert, aber auch ziemlich sauer. Sie hatte ihn verarscht und dann auch noch hinter ihr her rennen lassen.

„Gib mir die Karten zurück, die gehören mir!“, fauchte er sie an, versuchte dabei, einen möglichst grimmigen Eindruck zu machen.

„Ja ja, kriegst du ja gleich, jetzt komm schon, komm schon!“

Lotta sprang wieder auf ihr Skateboard und fuhr los, Theo hatte keine andere Wahl als hinter ihr her zu laufen.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert