Theo war immer noch damit beschäftigt, alles aufzunehmen und zu verarbeiten. Dieses Panmysterion gab es also tatsächlich. Er war hier mit diesem Mädchen, von dem er nicht einmal den Namen wusste, aber es war real und sie konnte das hier genauso sehen wie er selbst. Es war real, so wie die zwei Karten in seiner Hand und der Brief von seinem Vater, den er in seinem Rucksack trug.
Dann musste auch Eulalia real sein und das was sie erzählt hatte. Dann musste die Geschichte mit seinem Vater, die sie erzählt hatte, auch wahr sein. Seinen Vater gab es wirklich, schließlich hatte er ja seinen Brief gelesen, und er würde ihn bald treffen. Sein Herz machte einen Sprung vor Freude und noch einen vor lauter Aufregung und Angst.
Es konnte doch nicht sein, dass sein Vater hier in diesem Kristallpalast war? Oder war hier das Tor, der Übergang in die Anderswelt, von dem Eulalia erzählt hatte? So musste es sein. Also musste er hier hinein und dieses Tor finden.
Sollte er das Mädchen mitnehmen? Sie war nett, aber das und ihre forsche und etwas wilde Art schüchterte ihn ein. Er würde nach dem Tor suchen müssen und das Mädchen würde ihn dabei nur behindern.
„Ja, ähm, ich weiß nicht, vielleicht später. Wollen wir eine Cola trinken?“
„Ok, gerne. Aber ich hab kein Geld. Und du?“, entgegnete Lotta.
„Kein Problem, ich gib dir was aus.“
Theo ging hinüber zu der älteren Dame, bestellte zwei Cola, brachte sie zu Lotta, die sich an einen der Stehtische gestellt hatte, das Skateboard ans Tischbein gelehnt.
„Also du hast Karten für dieses Pan-Dingsbums, und jetzt weißt du nicht, ob du hinein willst? Wieso hast du die Karten eigentlich?“ fragte sie und saugte dann an ihrem Strohhalm die Cola aus dem Becher. Dabei schaute sie ihm in die Augen und wartete auf Antwort.
Diese Augen hatten ihn schon beim ersten Mal, als sie ihn anblickten, verwirrt und so war es auch diesmal. Er starrte sie an und brachte kein Wort heraus. Er hätte auch so nicht gewusst, was er sagen sollte. Von einer Elfe erzählen, die ihm Nachrichten über seinen Vater überbracht hatte, der in einer anderen Welt lebt, der aber eigentlich schon lange tot sein sollte, und dass es hier in diesem Kristallpalast wahrscheinlich einen Eingang zu dieser anderen Welt geben musste? Und die Eintrittskarten von dieser Elfe bekommen hätte?
Lotta zog ungeduldig die Augenbrauen hoch.
„Komm schon, komm schon, spann mich nicht auf die Folter. Erzähl schon!“
Theo sah Lotta weiter in die Augen. Irgendetwas an ihr flößte ihm Vertrauen ein, so als ob er sie schon sehr lange kennen würde. Dann wollte er erzählen. Bisher hatte er mit niemanden über seine Erlebnisse gesprochen und wenn sie ihn am Ende auslachen würde, dann war das eben so. Immerhin hatte er ja zwei Karten bekommen und vielleicht hatte das auch etwas zu bedeuten.
So begann er zunächst stockend und dann, als er merkte, dass ihm das Mädchen aufmerksam zuhörte, immer flüssiger alles zu erzählen.
„… und dann bin ich dir begegnet und den Rest kennst du ja.“
„Tolle Geschichte“, sagte Lotta, „hätte von meinem Vater sein können. Der stammt aus Afrika und erzählt auch gerne total fantastische Geschichten aus seiner Heimat.“
„Das ist keine Geschichte, das ist alles wirklich so passiert. Das kannst du mir glauben.“, widersprach Theo.
„Ja, schon klar. Aber mein Vater sagt immer: Wahr oder nicht wahr, das spielt keine Rolle. Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte. Verstehst du?
Dabei fällt mir ein: Ich heiße Lotta, und wie heißt du?“
„Ähm, Theo, ich heiße Theo. Eigentlich Theobald, aber den Namen finde ich blöd. Und so nennen mich alle Theo.“
„Ok, Theo klingt doch gut. Also wenn das so ist, wie du erzählt hast, dann müssen wir jetzt da rein gehen und diesen Eingang finden.“
Theo zögerte immer noch. Lotta schien sehr vernünftig zu sein und vielleicht war es gar nicht so schlecht, nicht allein in diesem Panmysterion zu sein.
Er holte die Eintrittskarten aus dem Rucksack und gab eine davon Lotta.
„Gut, dann los.“, sagte er und beide steuerten auf den Eingang zu.
Seine Hände zitterten etwas, als er seine Karte einem der beiden Wärter gab. Der schaute sich die Karte genau an, drehte sie ein paar Mal hin und her, schaute dann Theo prüfend an und riss die Karte dann einmal an.
„Viel Spaß!“, sagte der Wärter während er zur Seite trat, um Theo durchzulassen.
Mit Lotta schien auch alles problemlos zu laufen und Theo bekam nur noch mit, dass sich die beiden Wärter einen Blick zuwarfen. Aber dann waren Theo und Lotta schon drin im Kristallpalast.
Es war größer, als man von außen erwartet hätte. Weit über Ihnen wölbte sich das halbrunde gläserne Dach. Unter dem Dach war ein Stahlseil quer durch die Halle gespannt, auf der eine Seiltänzerin im rosa Tütü balancierte. Leise Zirkusmusik begleitete sie.
Rundherum in der Halle gab es Stände wie auf einem Marktplatz. Man sah Jongleure bunt geschminkt in Harlekinkostümen, die mit Bällen oder den verschiedensten Gegenständen jonglierten, Zauberer mit schwarzen Zylindern, aus denen sie Kaninchen zauberten, die sofort vom Tisch sprangen und in der Menge verschwanden, sobald der Zauberer sie losgelassen hatte. Dann kamen statt Kaninchen weiße Tauben aus dem Zylinder, Schwärme von weißen Tauben, die los flatterten und in die Seitenräume verschwanden.
Ein Clown zauberte riesige Seifenblasen mit einem Ring, der an einem langen Stab befestigt war. Kleine Kinder sprangen begeistert herum und versuchten die schillernden Blasen zu fangen, die zerplatzten, sobald sie berührt wurden. Jedes Platzen wurde vom Clown mit einem traurigen „Eijeijei“ begleitet, während die Kinder vor Vergnügen kreischten. Der Clown tauchte den Ring wieder in den Eimer mit dem Seifenwasser und ließ durch weites Schwingen wieder neue bunte Kugeln entstehen. Jede neue Blase wurde von ihm mit lautem und fröhlichen „Eijeijei“ begleitet.
Theo konnte das alles nicht genießen. Konnte dieser Clown mit den Seifenblasen sein Vater sein? Oder einer der Jongleure? Es waren auch noch andere Clowns in der Halle. In einer Ecke standen zwei nebeneinander, der eine etwas kleiner und rundlich mit roter Nase, einer zerbeulten schwarzen Melone auf dem Kopf, an der eine rote Papierblume befestigt war. Er trug ein viel zu großes kariertes Sakko über einer bunt geflickten Hose, die wiederum zu kurz war, so dass seine weißen Waden zu sehen waren. Seine geringelten Socken steckten in übergroßen Schuhen ohne Schuhbänder. Sein Partner groß und schlank, weiß geschminktes Gesicht unter einem weißen spitzen Hut, der Theo an eine umgekehrte Schultüte erinnerte. Er steckte in einer Art Overall in Blau mit silbernen Fäden durchwirkt, die Beinteile dreiviertel lang pluderig aufgebauscht, darunter weiße Strumpfhosen in weißen Ballerinas. An ihm war alles perfekt und so stand er auch in aufrechter, etwas steifer Haltung abfällig auf den dummen August herabblickend.
Theo ging näher heran. Die beiden waren in ein Streitgespräch verwickelt, in dem es darum ging, wer wen nass machen könnte. Die Zuschauer, vor allem Kinder waren völlig gebannt von dem Spiel der beiden, kicherten und riefen teilweise laute Kommentare. Die Sympathien waren eindeutig auf Seiten des Dummen August und so verwunderte es nicht, dass alle in begeisterte Kreischen verfielen, als aus einer Sonnenblume, die der August an seinem Sakko befestigt hatte, plötzlich ein fester Strahl Wasser spritzte und dies dem arroganten Weißclown mitten ins Gesicht. Der August trat blitzschnell drei Schritte zurück und wartete auf die Reaktion.
Theo fand solche Spiele albern. Mochte ja sein, dass sein Vater ein Clown war, aber was sollte daran lustig sein, sich gegenseitig nass zu spritzen? Er hatte sich seinen Vater, wenn schon als Clown immer mit einer roten Nase vorgestellt, aber gleichzeitig klug und stark und überhaupt der Größte. Das hier konnte mit Sicherheit nicht sein Vater sein. Lotta war hinter ihn getreten, lachte laut mit den anderen auf.
Was sollte das hier sein? Ein Panmysterion war doch kein Zirkus, oder doch? Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt. Eulalia hatte von einer anderen Welt gesprochen, wo sein Vater auf ihn warten sollte. Und von einem Tor, durch das man in diese Welt kommen würde. Nun waren sie ja schon durch einen Eingang in diesen Kristallpalast gegangen. War das schon das Tor gewesen? Theo kam das alles hier viel zu normal vor, die Besucher ganz normale Leute. Viele Eltern mit ihren Kindern, es waren ja schließlich Schulferien und das war natürlich ein willkommener Ferienspaß.
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