Vielleicht wäre es ja besser gewesen, ich wäre mit meinem Vater mitgegangen, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass es immer weiter so schneien würde. Es hatte schon in der Nacht geschneit und alle Straßen und Wege waren von einer dicken Decke Schnee bedeckt. Am Morgen war ich von Geräusch der rutschenden und durchdrehenden Räder auf der Straße vor unserem Haus geweckt worden. Als ich zum Fenster hinaussah, konnte ich im gelblichen Licht der Straßenlaternen die dicken ruhigen Flocken herunter schweben sehen. Und auf der Straße versuchte man mit den Autos trotz der Glätte den Berg Richtung Stadt hinaufzukommen. Mein Vater ist dann früh los, die Zeitung musste ausgetragen werden, egal welches Wetter und heute am Heiligabend sowieso, da gab es kein Vertun und da half auch kein Bitten und Zürnen meiner Mutter. Das sonntägliche Zeitungsaustragen war ein wichtiges Zubrot für meinen Vater und gerade an diesem Tag würde er seine Kunden nicht ohne Zeitung in die Feiertage lassen. Sicher dachte er dabei auch an das zusätzliche Trinkgeld und was sonst noch an solchen Tagen zu erwarten war. Also ging er los, wie sonst auch zu Fuß mit Mantel und Hut und seiner großen Tasche für die Zeitungen.
Heiligabend war immer einer der aufregendsten Tage des Jahres. Der Weihnachtsbaum wurde geschmückt und in diesem Jahr durfte ich dabei sein und mithelfen. Zum Abendessen gab es dann Kartoffelsalat mit Salzheringen. Später saßen wir alle zusammen in unserer kleinen Wohnküche, der Küchenofen bollerte ordentlich Hitze aus, die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum brannten und mein Vater stimmte seine Mundharmonika an und wir sangen gemeinsam Weihnachtslieder, meine Mutter, die alle Weihnachtslieder auswendig kannte, meine große Schwester mit ihrer schönen Stimme, die auch sonst immer gerne gesungen hat und mein großer Bruder, der aber eher zurückhaltend. Mein Vater und mein Bruder tranken dann das ein oder andere Bier, rauchten dazu Zigaretten, und ich durfte Cola trinken und Plätzchen essen, bis wir, wenn es soweit war, gemeinsam zur Christmette gingen. Geschenke gab es an Heiligabend noch nicht, da diese ja erst in der Nacht vom Christkind gebracht und unter den Weihnachtsbaum gelegt wurden.
Heute war alles anders. Es war Sonntag, und am Sonntag war mein Vater immer unterwegs um die „Bild am Sonntag“ auszutragen. Ich habe ihn dabei oft und gerne begleitet und wäre gerade heute gerne mitgegangen. Letztes Jahr war ich zu Weihnachten dabei gewesen. Fast überall, wo Papa die Zeitung ablieferte, wurden wir sehr freundlich mit „Frohe Weihnachten“ begrüßt, mein Vater bekam ein extra dickes Trinkgeld und oft dazu noch einen Schnaps angeboten, den er immer gerne annahm. Und wenn man mich, den kleinen Paul erblickte, kehrten viele noch mal um in die Wohnung und dann gab es Plätzchen, Schokolade, eine Apfelsine und manchmal sogar ein 50-Pfennig-Stück für mich. Die Geschenke landeten dann in der großen Umhängetasche, in der mein Vater die Zeitungen trug. An einem solchen Tag wurde diese Tasche natürlich nicht leichter, auch wenn immer weniger Zeitungen drin waren. Es war egal ob arm oder reich, eigentlich hat jeder was gegeben, sei es die Menschen in der Flüchtlingsbaracke oder das Dienstmädchen mit der weißen Schürze in der Villa, Weihnachten war eben Weihnachten.
Ja und nun war es schon sechs Uhr abends. Es schneite weiterhin dicke satte Flocken, auf der Straße fuhr schon längst kein Auto mehr und draußen wurde es immer stiller. Alle saßen bei ihren Familien und feierten den Heiligabend. Normalerweise brauchte mein Vater für seine Runde bis zum Mittag und in der Regel war er am frühen Nachmittag wieder zu Hause. Na ja wir trösteten uns gegenseitig damit, dass ja heute Heiligabend sei, und dass er da ja wohl öfter mal aufgehalten würde, was auch wieder kein richtiger Trost war, denn aufgehalten werden hieß in diesem Falle, man bot Papa einen Schnaps an, dann vielleicht noch einen, weil „ auf einem Bein kann man ja nicht stehen…“ und dass ja nicht nur in einem Haus. Wir wussten auch, dass Papa da nicht nein sagen konnte und wollte und dass er nicht besonders viel vertrug. Nur Papa war nicht da und so wurde dieser Abend nicht so fröhlich wie sonst, die Stimmung bedrückt. Meine Mutter schwankte zwischen Angst und Wut und Hilflosigkeit. War ihm möglicherweise etwas passiert? Was konnte sie tun, außer abzuwarten? Telefon hatten wir nicht, also konnte man auf keinen Anruf warten. Und wen hätten wir anrufen können? Die Polizei vielleicht, aber noch hatten wir ja Hoffnung, dass er noch kommen würde, und was könnte die Polizei schon machen?
So wurde es ein eher trauriger Heiligabend, in die Christmette sind wir diesmal nicht gegangen, wollten wir doch nicht ohne Papa los, er hätte ja jeden Moment kommen können. Außerdem waren die Straßen von hohem Schnee bedeckt, es schneite immer noch ununterbrochen und die Busse hatten ihren Verkehr eingestellt. Irgendwann musste ich ins Bett, ohne dass er wieder da war. Ich konnte nicht einschlafen, dachte immer an meinen Vater, an den vielen Schnee draußen und ich betete zum lieben Gott, dass er meinen Vater beschützen möge und heil wieder nach Hause bringen. Irgendwann bin ich dann wohl doch eingeschlafen, denn ich wurde wach vom lauten Schimpfen meiner Mutter. Sie war auch schon im Bett, ich schlief damals noch mit meinen Bruder und meinen Eltern in einem Zimmer. Es war das einzige was wir hatten, außer der Wohnküche, wo meine Schwester auf der Couch schlief. Jetzt schlief sie nicht mehr und ich hörte sie immer wieder laut rufen: „Papa ist wieder da! Papa ist wieder da!“ Mein Vater stand in der Schlafzimmertür mit Mantel, ohne Hut, die große Tasche noch umgehängt. „Ich bin kernnüchtern! Habe nur zwei Bier getrunken!“ Ich war froh, dass er heil wieder da war, aber meine Mutter hörte gar nicht auf zu schimpfen, was ihm einfiele, am Heiligabend nicht nach Hause zu kommen, dass sie sich solche Sorgen gemacht hätte, warum er immer so viel trinken müsse. Er verteidigte sich mit schwerer Zunge: „Ich bin extra durch dat Tal gegangen, damit ich schneller zu Hause bin. Dat war so viel Schnee, vor lauter Schnee konnte man den Weg nich mehr sehn. Und dann bin ich hingefallen und eingeschlafen, bis mich jemand geweckt hat und mir den Weg gezeigt hat. Und jetzt bin ich hier und ich bin kernnüchtern!“ Aufgebracht entgegnete meine Mutter: „Du hättest erfrieren können! Und wo ist dein Hut? Jetzt hast du auch noch deinen Hut verloren!“ So ging es eine Weile hin und her, meine Schwester hatte mittlerweile aufgehört „Papa ist wieder da!“ zu rufen, mein Bruder war trotz des Lärms nicht wach geworden und schlief eingerollt in seine Decke. Ich war total glücklich, dass alles so gut ausgegangen war, meine Mutter beruhigte sich langsam auch wieder und bevor mein Vater im Bett war, war ich schon wieder eingeschlafen.
Am nächsten Morgen, als ich aufgestanden war und in unsere Wohnküche kam, war die Welt wieder in Ordnung. Der Weihnachtsbaum war geschmückt, die Kerzen brannten, aus dem Radio kam weihnachtliche Musik und auch das Christkind war trotz Schnee und Eis gekommen und hatte seine Geschenke unter dem Weihnachtsbaum deponiert. Mein Vater stand schon vor dem Spiegel über dem Spülbecken, das Gesicht voll Schaum und rasierte sich. Ein ganz normaler wunderbarer Weihnachtsmorgen.
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