Wenn man das Krankenhaus verließ, dann die Straßenseite wechselte, hatte man einen grandiosen Blick auf den Remscheider Berg. Ganz oben thronte das Rathaus, davor die Hügel hinauf Haus auf Haus, Fensterreihen, dunkle Dächer, von Ruß und Dreck geschwärzt, Industrieanlagen wie Festungen aus Backstein in den Berg gebaut aber ebenfalls eher schwarz als rot.
Aber im Vordergrund die Eisbeinhäuser, der Schandfleck der Stadt in weißer Unschuld, da wo die Asozialen und Obdachlosen wohnten, malerisch gelegen am Waldrand mit dem satten Grün des bergischen Waldes. „Da ist meine Heimat, mein Bergisches Land“. So heißt es im bergischen Heimatlied. Tatsächlich war dort meine Heimat.
Im Städtischen Krankenhaus, das hinter mir lag, wurde ich geboren, kurz nach der Geburt in der Krankenhauskapelle notgetauft, da man aufgrund eines festgestellten Herzfehlers mein baldiges Ableben befürchtete und mich daher durch die Befreiung von der Erbsünde vor den Schrecken des Fegefeuers schützen wollte. Eine Nottaufe ist so eine Sache, da müssen dann auch Ersatzpaten dem kleinen gefährdeten Neuchristen zur Seite stehen, auch wenn die nicht die richtige Religion hatten.
Neben meiner Tante Lisbeth, die Schwester meiner Mutter, korrekterweise römisch-katholisch, trat auf Gerda Klammer, evangelisch-lutherisch, in Vertretung meines Namenspaten Onkel Paul, verheiratet mit Lisbeth, ebenfalls römisch-katholisch. Gerda Klammer hielt also ersatzweise bei meiner Taufe die Hand über mich.
Vielleicht war diese „Mischtaufe“ schon kein gutes Omen für meinen Werdegang in der katholischen Kirche. Sie war also so etwas wie eine Patentante, wenn auch nur vertretungsweise. Ich habe das erst erfahren, als ich unser Familienstammbuch in die Hand bekam, in dem auch die Taufe dokumentiert ist. Gerda Klammer war eine direkte Nachbarin von uns, Tochter von Omma Westhoff, die ebenfalls direkt neben uns wohnte. Gerda hatte wohl nicht so viel Vertrauen in die Wirkung der Taufe, denn sie hat mich immer wieder in meiner Kindheit davor gewarnt, dass ich wahrscheinlich am Galgen enden würde, es wohl ein böses Ende mit mir nehmen würde.
Die „Eisbeinhäuser“ bestanden aus drei großen Blöcken, abgerundet an den Berg gebaut, mit Blick auf die bergischen Wälder und Remscheider Hügel inklusive dem Städtischen Krankenhaus nach der hinteren Seite hinaus. Ursprünglich als Lungensanatorium gebaut, war es jetzt günstiger Wohnraum für meine Familie in meinen ersten 9 Lebensjahren. Es war für das kleine Päulchen ein wunderbares Zuhause mit allen was sich ein kleiner Junge wünschen konnte.
Erst in der Schule habe ich mitbekommen, dass das Wohnen hier nicht von allen Remscheidern geschätzt wurde. Es war wohl in der 1. Klasse, als mir in der Schule schlecht wurde, ein Mitschüler bekam den Auftrag mich nach Hause zu begleiten. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Mitleid und Verachtung sagte er:“Ach hier wohnst du?“ als er sah, wohin mich unser Weg führte, nämlich zu den „Eisbeinhäusern“. Damals war ich leicht irritiert, bemerkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war an meinem Zuhause.
Später erfuhr ich dann, dass „Eisbeinhäuser“ in Remscheid ein Synonym für Asoziale und Odachlose war. Angeblich war es im Winter dort so kalt, dass man Eisbeine bekam, und die Bewohner die Holzdielen herausrissen, um sie zu verheizen. Kalt war es sicher im Winter, vor allem im Schlafzimmer, wo es keinen Ofen gab und auf dem WC, das sich im offenen und unbeheizten Treppenhaus befand. Bei Frost fror es dann auch immer wieder ein, so dass wir den Eimer benutzen mussten, der im Schlafzimmer stand. Dass Holzdielen herausgerissen wurden, habe ich allerdings nicht mitbekommen. Wir heizten unseren einzigen Ofen, der in der Wohnküche stand, mit Briketts, die im Keller gestapelt waren. Wir hatten einen winzig kleinen Kellerverschlag in den kohlenschwarze, kapuzenbewehrte Männer die Briketts aus Säcken auf den Boden kippten. Eine wichtige und schöne Aufgabe war es für mich, gemeinsam mit meinem Vater die Briketts so aufzustapeln dass sie nicht umkippten und Platz für den Zugang zur Kartoffelkiste war.
Man konnte von hier aus den Balkon mit der Wäsche, die meine Mutter aufgehängt hatte, sehen. Auf diesem Balkon habe ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht. Es gab einen kleinen Tisch mit Stühlen. Zumindest im Sommer war das mein Spielzimmer, wenn ich nicht gerade unterwegs war, draußen auf dem großen Hof vor den Häusern, auf der Wiese hinter dem Haus oder direkt hier vorne im Wald. Zum Balkon kam man durch das Schlafzimmer. Hier stand ein großes Doppelbett, links und rechts ein Nachttisch. Auf dem Nachttisch meiner Mutter ein Kruzifix aus Messing, an dem meist auch noch ein Rosenkranz hing. Neben der Tür hing ein kleines Kruzifix mit einer kleinen Schale für Weihwasser, dass meine Mutter bei bestimmten Gelegenheiten aus der Kirche mitbrachte. Hier war auch mein Schlafplatz, in der „Besucherritze“ zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Quer zum Doppelbett gab es noch ein einzelnes Bett für meinen Bruder. Meine Schwester kam erst später wieder zu uns, sie schlief dann in der Küche auf dem Sofa hinter dem Esstisch. Mehr als diese beiden Räume gab es nicht. Ich habe das damals nie als Mangel empfunden, war mein Reich doch viel größer!
Unsere kleine Wohnung erreichte man durch einen Flur. Direkt gegenüber wohnte Omma Westhoff, die für mich die Oma war, eine andere habe ich nicht kennengelernt. Ihre Tür war immer offen und hier gab es auch immer etwas zu essen. Wenn meine Mutter arbeiten war, bekam ich hier auch Mittagessen, manchmal eine Rindfleischsuppe mit einer dicken Fettschicht obendrauf, denn Fett war wichtig für die Gesundheit und hält warm. So meinte jedenfalls Omma Westhoff und ihr Körperumfang entsprach diesem Glaubenssatz. In der Regel thronte sie in der ihr eigenen ungeheuren Leibesfülle auf ihrem Sofa hinter dem Esstisch in ihrer Wohnküche während ich neben ihr auf einem Stuhl saß und sie scharf darauf achtete, dass ich den Teller auch leer aß. Omma Westhoff hatte auch einen Wellensittich in einem Käfig, der öfter mal frei herumfliegen durfte und sich gerne auf Omma Westhoffs Schulter setzen um kleine Brocken aus ihrem Mundwinkel zu picken.
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